Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Dieses Zitat aus Max Frisch’ Roman „Mein Name sei Gantenbein“ stellt Rudolf Egger, Professor für Lernweltforschung und Hochschuldidaktik, als Klammer über unser Gespräch. „Wir alle begreifen unser Leben in Form von Erzählungen. Und diese können – und müssen – wir lernend verändern.“ Die Frage, ob oder warum das Herausbilden neuer Fähigkeiten, Interessen oder Aktivitäten jenseits der 50 wichtig sei, will der Wissenschafter deshalb so nicht gelten lassen. Denn: „Es geht gar nicht anders. Eine fertig entwickelte Identität gibt es nicht. Das Leben verlangt immer wieder Umorientierungen.“
Vorsortiert. Wie wir mit diesem Umstand in reiferen Jahren umgehen, ist laut Egger großteils davon abhängig, wie wir bis dahin gelebt haben. „Wer zum Beispiel den Job nur als belastend wahrgenommen hat, sehnt sich in der Pension oft nach Ruhe und will von Weiterentwicklung nichts mehr hören. Das betrifft hauptsächlich Männer, die sich durch den Beruf definiert haben. Für sie kann eine Fortbildung im Ruhestand die Möglichkeit sein, aus der sozialen Isolation herauszukommen“, so der Wissenschafter. Frauen hingegen erleben Mehrfachbelastungen schon als junge Erwachsene als etwas „Normales“ und seien deshalb öfters bereit, sich auch im fortgeschrittenen Alter weiterzubilden.
Gerade dieser Klientel – aktiven, motivierten und wissbegierigen Menschen mit großem Schatz an Lebenserfahrungen – sollten die Universitäten neben dem Wissenserwerb neue Lernangebote machen. Denn die aktuellen gehen an ihren Bedürfnissen oft vorbei, meint der Forscher: „Ein Kurs mit vorgefasstem Curriculum und Zertifikatsabschluss – das ist für diese Zielgruppe meist nicht sinnvoll. Sie will keinen starren Vermittlungsprozess von oben nach unten, sondern Formate, in die sie ihre persönlichen Erfahrungen einstreuen kann.“
Bildung, öffne dich! Als Beispiel für ein funktionierendes Lernmodell für die Generation 50 plus nennt Egger das „Studium Generale“ der Münchner Volkshochschule. Kleine Gruppen erstellen sich dort selbst in Absprache mit wissenschaftlichen DozentInnen und PraktikerInnen einen Semesterplan zu verschiedenen Themenschwerpunkten. Vorträge, Diskussionen und Exkursionen wechseln einander ab, flexibel und auf das Interesse der TeilnehmerInnen zugeschnitten.
Die Klientel 50 plus braucht Lernformate, in die sie ihre Erfahrungen einstreuen kann.
Rudolf Egger
Wie wichtig es ist, immer wieder neue Wege zu Lernprozessen zu finden, hat Egger auch in seinen Biographieforschungen festgestellt. In rund 800 Lebenserzählungen, die er bislang aufgezeichnet und analysiert hat, kommt der Bildung – gemeinsam mit zwei weiteren Bs: Bewegung und Beziehung – fast immer ein zentraler Stellenwert zu. „Diese Bs tragen wesentlich zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit bei, das auch lebenslanges Lernen auszeichnet. Gerade dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Glaube daran, etwas erreichen zu können, sind von entscheidender Bedeutung“, betont der Forscher.
Er verweist zudem auf ein weiteres „Lern-Werkzeug“: community education. Damit gemeint ist das Zusammenführen von Bildungsarbeit und Gemeinwesen in informellem Rahmen. In Österreich findet community education regional schon statt, obwohl es nicht so benannt wird. Der Bildungswissenschafter präzisiert: „Lernen passiert zum Beispiel in der Freiwilligen Feuerwehr und bei anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten, im Blasmusikverein, beim Sport oder in der Natur. Dabei sind Menschen reiferen Alters genauso eingebunden wie jüngere, es findet eine lernende Begegnung auf Augenhöhe statt.“ Diese Interaktion wirkt zudem sinnstiftend und festigt den Gemeinschaftsgeist. Das eigene Leben in eine sinnvolle Geschichte zu bringen und diese dann jemandem zu erzählen – das scheint die Quintessenz des lebenslangen Lernens zu sein.
Aktuell ist auch im ORF-Format "Bundesland Heute" ein Beitrag mit Rudolf Egger erschienen
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